Der eingangs zitierte »Vertrauensindex« könnte weiteren Stoff zum Nachdenken liefern: Im reichen Deutschland ist die soziale Ungleichheit höher als in den meisten Industrieländern – aber die Aufstiegschancen durch Bildung wesentlich geringer. Jeder Zweite hält den Kapitalismus für eine schädliche Gesellschaftsform, denn er vertrete nicht die Interessen der Bevölkerung.
»Die Vertrauenskrise des Staates«: Unter diesem Titel befasste sich Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), mit dem Verhältnis der Bevölkerung zum Staat und seinen Institutionen (zeit.de, 31.1.2020). Auf der Grundlage der Daten der Kommunikationsagentur Edelmann (»Vertrauensindex«) stellte er fest, dass »die westliche Welt eine zunehmende Vertrauenskrise des Staates erlebt und immer weniger Menschen ihren staatlichen Institutionen zutrauen, die Probleme unserer Zeit zu lösen«. Erschreckend sei der große Vertrauensverlust gegenüber Kompetenz und ethischem Verhalten von Politikern – besonders in Deutschland. Betrachtet man Schwerpunkte und aktuelle Entwicklungen der deutschen Regierungspolitik und das Agieren ihres Personals, stellt sich weniger die Frage, woher das Misstrauen rührt. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass wenig davon zu der Überzeugung Anlass geben könnte, die staatlichen Institutionen würden Probleme im Sinne des Gemeinwohls lösen. Ohnehin sind sie derzeit mit selbst verschuldeten Skandalen ausgelastet. […]
Der eingangs zitierte »Vertrauensindex« könnte weiteren Stoff zum Nachdenken liefern: Im reichen Deutschland ist die soziale Ungleichheit höher als in den meisten Industrieländern – aber die Aufstiegschancen durch Bildung wesentlich geringer. Jeder Zweite hält den Kapitalismus für eine schädliche Gesellschaftsform, denn er vertrete nicht die Interessen der Bevölkerung. Deutlich wird, dass der Staat nur für die Elite gut funktioniert: Diese hat 50 Prozent mehr Vertrauen in den Staat und seine Institutionen als der Durchschnitt der Bevölkerung! Die Corona-Pandemie hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass der neoliberal radikalisierte Kapitalismus den globalen Problemen nicht gerecht wird. Ihm gelten Demokratie und Menschenrechte als Geschäftsschädigung und als Waffe, die man gegen China in Anschlag bringen kann. Auf Einsicht der Machteliten zu hoffen und menschenwürdige Konsequenzen – etwa gerechte Verteilung der Reichtümer, friedliche Lösungen von Konflikten, Kontrolle wirtschaftlicher Macht – zu erwarten, wäre vollkommen unrealistisch.
Quelle: Ossietzky 14/2020