Das scheinbare deutsche Jobwunder mit 41 Millionen Erwerbstätigen trotz Weltfinanzkrise hat einen Makel: Das Wachstum fand vor allem beim Niedriglohn statt, den jeder fünfte Beschäftigte heute erhält. Die Niedriglohnsektor ist dreimal so schnell gewachsen wie die Beschäftigung oberhalb der Niedriglohnschwelle.
Unter den sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten stieg die Anzahl der Niedriglöhner nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) von 2005 bis 2010 um 13,5 Prozent auf rund 4,278 Millionen. Die Zahl der besser Bezahlten stieg nur um 4,5 Prozent. Somit fanden 42 Prozent des Beschäftigungsaufbaus für reguläre Vollzeitjobs im Niedriglohnsektor statt. Die Ausweitung der Niedriglohnsektors war kein Unfall. Sie war politisch gewollt. „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“, rühmte sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Anfang 2005 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Unter Rot-Grün wurden dafür die Weichen gestellt. Jeder fünfte Job ist mittlerweile ein Minijob. Neun von zehn Minijobbern, die keiner anderen Beschäftigung nachgehen, arbeiten zu Niedriglöhnen. Rot-Grün erleichterte die Leiharbeit. Die Branche zählt 900.000 Beschäftigte. Fast drei Viertel davon arbeiten im Niedriglohnbereich, wie die BA ermittelte. Hinzu kommt, dass Tarifverträge für immer weniger Beschäftige gelten. Aber selbst sie schützen nicht vor Niedriglöhnen, ebenso wenig wie Mindestlöhne. Im arbeitgebernahen Institut für Wirtschaft (IW) herrscht die Überzeugung, der Niedriglohnsektor diene ansonsten Chancenlosen als Sprungbrett zu einer regulären Beschäftigung. „Der Niedriglohnsektor wächst nicht auf Kosten der Normalverdiener. Der Niedriglohnsektor schafft Arbeitsplätze, die es vorher nicht gab“, versichert IW-Experte Holger Schäfer. „Das wird überhaupt nicht belegt“, widerspricht ihm der Arbeitsmarktexperte der Hans-Böckler-Stiftung, Alexander Herzog-Stein. Der Niedriglohnsektor sei eine große Verschwendung. Leidtragende seien aufgrund ihrer steigenden Erwerbsneigung vor allem Frauen, die häufig gut qualifiziert seien und in den Niedriglohnsektor abgedrängt würden. „Wir verschenken hier enorme Ressourcen“, kritisiert Herzog-Stein.
Quelle: FR
Anmerkung Orlando Pascheit: Der Spiegel titelt zu den jüngsten Arbeitslosenzahlen: “Jobmarkt ist so stabil wie nie” Das klingt so, wie wenn die Kanzlerin von der Stabilitätsunion faselt. Stabilität ist kein Wert an sich, wenn nicht geklärt ist, wobei und auf welchem Niveau Stabilität erreicht wird. Gut, dass die FR die Grenzen des deutschen “Jobwunders” aufzuzeigen versucht, auch wenn sie sich letztendlich weigert, klar Position zu beziehen. Die SZ berichtet von einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken und verweist damit auf einen weiteren Makel dieses “Jobwunders”: Nur knapp 15 Prozent der Langzeitarbeitslosen konnten 2011 in Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. In der Statistik tauchen viele trotzdem nicht auf.
– Und wer sagt denn, dass 3 Mio. Arbeitslose – lassen wir einmal außen vor, dass diese Zahl getrickst ist – eine Zahl ist, die Deutschland auf Dauer akzeptieren darf.