Ein Blick in die Biographie der Pfarrerstochter genügt, um der zur Schau gestellten Unbedarftheit eine weitaus größere Wirkungsmacht zu unterstellen als dem Gepolter ihres Basta-Vorgängers. Stets hatte sie alle Widersacher unauffällig aber mit aller Bestimmtheit aus dem Weg geräumt.
Udo van Kampen müsste es eigentlich besser wissen. Der ergraute ZDF-Korrespondent legte Mitte Juli letzten Jahres jegliche Würde ab, als er Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Pressekonferenz gegenüber saß. Er ergriff das Mikrophon und setzte zum pathetischen Wortschwall an: »Ich glaube, ich spreche hier im Namen aller, wir möchten Ihnen ganz, ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren«. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, versuchte van Kampen anschließend noch, die um ihn Sitzenden zum »Happy Birthday«-Grölen zu animieren. Das misslang gehörig, van Kampen sang allein für die »liebe Bundeskanzlerin«.
Van Kampen mag sich in der Zunft der Journalisten mit seiner Distanzlosigkeit zwar besonders hervorgetan haben. Doch er gehört zur großen Masse der Deutschen, die in Angela Merkel den Garanten für eine ruhige, ausgewogene Politik sehen und sich ohne Umschweife als Fan outen. Die Regierungspolitik? Alles Scheiße. Aber die Merkel? Ein Glücksfall. Im Politikbetrieb wie auch auf der Couch des Durchschnittsdeutschen gilt: Widerspruch ist in bezug auf Merkel nicht angebracht. Sie ist es selbst, die ihre Taktiken der unklaren Kante stets als »alternativlos« bezeichnet. Über nichts wird die Bundeskanzlerin so dankbar sein wie über das Attribut »Mutti«. Denn es eröffnet ihr ungeahnte Möglichkeiten, gibt dem Schein der Bodenständigkeit noch die passende Zuschreibung. »Mutti« geht früh zur Arbeit, und zum Dank singen wir ihr ein schönes Lied. Van Kampen wird seine Unverzagtheit im Nachhinein nicht bereut haben. Er trällerte ja nicht für irgendeinen Politiker, er sang für Angela Merkel. Die meint es schließlich nur gut mit uns. Da kann sich auch ein Journalist mal symbolisch an den Busen kuscheln. Doch löst die Bundeskanzlerin tatsächlich alle Krisen stets im Halbschlaf? Sitzt sie wirklich alle Konflikte mit der Bedächtigkeit eines Bernhardiners aus? Oder gehört das alles nur zur großen Merkel-Show, die der Kanzlerin des Kapitals menschliche Züge verleihen soll?
Ein Blick in die Biographie der Pfarrerstochter genügt, um der zur Schau gestellten Unbedarftheit eine weitaus größere Wirkungsmacht zu unterstellen als dem Gepolter ihres Basta-Vorgängers. Stets hatte sie alle Widersacher unauffällig aber mit aller Bestimmtheit aus dem Weg geräumt. Und ihre oft als positiv ausgelegte Eigenschaft der vermeintlichen Ideologiefreiheit entpuppt sich bei näherer Betrachtung lediglich als Fähigkeit, hin und wieder mal den Mund zu halten, wenn die zweite Reihe sich vor lauter Empörungsgehabe mal wieder nicht einkriegt. Das erfordert von Merkel und ihrem engsten Apparat vor allem eines: Disziplin. Und die Vermeidung jeglicher Angriffspunkte. Auf die gängigen Anlässe für den Karriereabsturz wie Flugaffären oder Begünstigungen von Amts wegen wird man bei Merkel vergeblich warten.
Am Silvesterabend musste Angela Merkel ihrem Volke dann das Jahr in einer Ansprache zusammenfassen. Das Bühnenbild vermittelte Heimeligkeit: weiße Rosen, bordeauxfarben glänzender Blazer, im Hintergrund der verschneite Reichstag mit Weihnachtsbaum davor. Keiner erwartete einen Rundumschlag von ihr, schon gar nichts Visionäres. Merkel tat wie ihr geheißen. Sie bediente die Allgemeinplätze, beschwor den gesellschaftlichen Zusammenhalt, erinnerte wohlig-warm an den Jahrestag des Mauerfalls, den Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft. Keine Rede ist von den sozialen Verwerfungen im Lande, von zehn Jahren Hartz IV oder denen, die sich nur mit Zweitjobs den Broterwerb sichern können. Kein Thema sind die Waffenexporte deutscher Rüstungskonzerne oder die Dimensionen der Spionage westlicher Geheimdienste, die ihre Kommunikationssysteme längst für flächendeckende Überwachung fit gemacht haben. Snowden ist längst kalter Kaffee.
Bemerkenswert an der Gewichtung des Gesagten: Die Rolle des Ukrainekonfliktes, der – gleich zu Beginn angesprochen – viel Raum in Merkels Ansprache einnahm. Natürlich in Form von Putin-Bashing. Die eigene Rolle kritisch zu hinterfragen, beispielsweise das EU-Assoziierungsabkommen als eines der Ursachen für Tausende Tote im schwelenden Krieg darzustellen oder den folgenschweren Sanktionskurs gegenüber Russland zu benennen, das kam nicht in Frage. Das Volk weiß ja: Merkel kann telefonieren und das auch noch auf russisch. Das muss genügen, um die Kanzlerin des Ausgleichs als solche gewähren zu lassen. Weiteres großes Thema: der Terror des »Islamischen Staates« (IS). Unerwähnt bleibt, dass Merkel eine gefühlte Ewigkeit zögerte, bis sie das Problem als solches benannte. Da hatten die Grünen längst Bodentruppen gefordert und Teile der Linken bereits den Antimilitarismus aufgegeben.
Viel Beifall auch jenseits des Fanclubs der Angela Merkel fanden ihre ablehnende Bemerkungen zu den Aufmärschen der Islamhasser in Dresden und anderswo. Während sie sich gegen diese aussprach, ging allerdings unter den Erzkonservativen wieder die Angst um, von der rechtspopulistischen AfD das Wasser abgegraben zu bekommen. Und so polterte vor allem die CSU fröhlich für schnelle Asylverfahren und noch schnellere Abschiebungen von Flüchtlingen. Eine Erwiderung Merkels auf diese Querschläger aus Bayern wird wohl wieder ausbleiben. Das hat mit Führungsstärke nichts zu tun, wird aber von ihr billigend in Kauf genommen, um den Laden zusammenzuhalten.
Die Rollenverteilung in der deutschen Regierungsfraktion ist klar. Die anderen hauen auf den Putz. Die Chefin bemerkt dazu ganz nonchalant, dass alles nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Wenn sie denn überhaupt etwas sagt. Doch das, was Merkels Kollegen – von der Verteidigungsministerin bis zum Bundespräsidenten – verlauten lassen, steht unabänderlich im Raum. Mehr »Engagement« heißt nun mal mehr Krieg. Einen Widerspruch Merkels gibt es dazu nicht. Eine Kurskorrektur ebensowenig. Und das ist ganz im Sinne derer, die das große Geld machen im Land.-----junge welt, 3.1.2015